Ein ukrainisches Sprichwort lautet: „Du siehst nicht wirklich die Welt, wenn du nur durch dein eigenes Fenster siehst.“ Oder wie es Prof. Volker Coors, Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Angewandte Forschung (IAF), im Frühjahr in einem Vortrag zum Thema 3D-Stadtmodelle formulierte: „Wer lediglich die Stadt sehen will, der muss nur aus dem Fenster schauen.“
Also treten wir raus aus dem eigenen Haus im übertragenen Sinne und tauchen ein in die Transferwelt mit ihren Möglichkeiten, die Städte der Zukunft mitzugestalten. Anlass dazu bot die „M4_LAB_FINISSAGE“ Ende Oktober an der HFT Stuttgart.
„Wechseln Sie mit uns die Perspektive und erweitern Sie Ihren Horizont!“, lautete eine Aufforderung in einer News-Meldung des M4_Lab zur Teilnahme an besagter Finissage. Einen solchen Perspektivenwechsel konnten die rund 190 Teilnehmenden der „M4_LAB_FINISSAGE“ am 26. Oktober 2022 an der Hochschule für Technik Stuttgart (HFT Stuttgart) vollziehen. Im Grunde bildete die Veranstaltung eine Mischung aus Retrospektive des eigenen Transferschaffens, gepaart mit einem Blick nach vorne. Der richtete sich auf die Stadt der Zukunft und die großen Themen der Ressourcen und Digitalisierung sowie die Stadtentwicklung, Mobilität und Transformation. Eine multimediale Ausstellung, flankiert von Fachvorträgen, ließen die Besucher:innen eintauchen in die Zukunft der Stadt.
Vom Umsetzungsproblem und dem Leben auf Pump
Dass es um diese Zukunft im urbanen Kontext nicht immer zum Besten bestellt ist, das unterstreichen die Herausforderungen für Städte, deren Verantwortlichen sowie Architekten und Stadtplaner. Und die fangen beim nachhaltigen Bauen an und hören bei Mobilitätsfragen noch nicht auf. Was es braucht, sind Lösungen für heute und die Zukunft. Prof. Katja Rade, Rektorin der HFT Stuttgart, formulierte es in ihren Eröffnungsworten denn auch so: „Wir haben kein Erkenntnisproblem. Wir haben ein Umsetzungsproblem.“ Mit Blick auf die Erkenntnisse und den daraus abzuleitenden Umsetzungen fokussierten sich die Vorträge von Prof. Juri Troy, Architekt, und der Stadtplanerin Prof. Christina Simon-Philipp auf das Bauen und die Stadt als einen Raum des Ausprobierens. Architekt Troys Vortrag stand vor dem Hintergrund der großen Frage: „Weiter Bauen trotz Klimazielen? Seine klare Antwort: „Auf jeden Fall nicht wie bisher.“ Seiner Meinung nach müssen wir mit unseren Ressourcen nachhaltiger umgehen. „Wir leben auf Pump“, so Troy. Und er ergänzt: „Wir müssen wieder lernen, mit dem auszukommen, was wir haben.“ Was einfach klingt, ist es in der Praxis nicht zwingend. Nach Troys Dafürhalten warten wir zu lange mit Maßnahmen. So müsse jede Form der Veränderung der Nachhaltigkeit unterworfen werden. „Gebäude und Städte müssen Teil der Lösung sein und nicht Teil des Problems“, resümiert Troy.
Simon-Philipp verwies in ihren Ausführungen zur Stadt als Experimentierraum auf Kopenhagen und stellte die Frage: „Warum denken wir nicht um die Ecke?“ Denn ihrer Meinung nach müssten wir Abschied nehmen von der Stadt von gestern. „Wir stehen inmitten eines Transformationsprozesses“, so Simon-Philipp mit Blick auf das Klima, die Mobilität und das Bauen. Das bedeutet auch, mit dem Gebäudebestand anders umzugehen. Doch dazu sei ihrer Meinung nach eine andere Perspektive notwendig. Wie ein solcher Perspektivenwechsel aussehen kann, veranschaulichte sie an der dänischen Hauptstadt Kopenhagen. Die über 640.000 Einwohner zählende Metropole setzt im Städtebau vieles von dem um, was sich Stadtplanerin Simon-Philipp hierzulande wünschen würde. Und das heißt zuvorderst mehr Experimentierräume. Einer dieser Experimentierfelder Kopenhagens ist die Müllverbrennungsanlage „CopenHill“. Der Ort ist mehr als ein Müllheizkraftwerk und wird von den Menschen auch als Outdoor-Park genutzt. „Nachhaltigkeit kann Spaß machen“, erklärt Simon-Philipp und ergänzt: „Lösungen, die sich erst einmal widersprechen können sich am Ende auch befruchten.“ Dass ein „um die Ecke denken“ hinsichtlich des öffentlichen Raums auch in deutschen Städten möglich ist, darauf verweist Simon-Philipp. Im Grunde setzt das zukünftig ein stärkeres interdisziplinäres Denken und Arbeiten voraus. Simon-Philipp: „Wir brauchen eine ganzheitliche Strategie.“ Und diese setze nach Simon-Philipps Verständnis eine transdisziplinäre Herangehensweise mit den Menschen vor Ort voraus. „Die Stadt ist das Labor“, unterstreicht Simon-Philipp und ergänzt: „Es geht darum, Fragen vor Ort zu stellen und Neues auszuprobieren.“ In diesem Zuge verweist sie unter anderem auf die Metropolregion Stuttgart und auf das Labor Nordbahnhof des M4_LAB. Abschließend unterstrich Simon-Phillip, dass die Transformation in den Städten nur gelingen könne, wenn damit eine steigende Lebensqualität einhergehe.
Das Erbe der Moderne – sich auflösende Grenzen
Apropos Transformation. Das Thema Mobilität ist eng mit dem Transformationsprozess verbunden und Fragen nach dem Zeitaufwand, den Kosten und der Verfügbarkeit der möglichen mobilen Alternative im Alltag. Prof. Patrick Planing, Wirtschaftspsychologe an der HFT Stuttgart, sieht in diesem Kontext die Akzeptanzforschung als Schlüssel für eine neue Mobilität. In seiner Keynote warf er die Frage auf: Wer entscheidet eigentlich darüber, wie wir uns morgen fortbewegen? Für Planing sieht dafür mehrere Faktoren als entscheidend an. Denn zur Marktreife einer Idee braucht es Investoren. Doch das alleine reiche seiner Meinung nach noch nicht aus, wie das Beispiel des gescheiterten Segways verdeutlicht. Trotz Investoren sei es nach Planings Worten nicht gelungen, den Segway im Markt zu etablieren. Und so sieht der Wirtschaftspsychologe einen Dreiklang aus einer großartigen Idee, einer großartigen Umsetzung und letztendlich, dass Menschen das Ganze großartig finden. Dabei gehe es nach Planing um das Abwägen des wahrgenommenen Vorteils, versus des empfundenen Aufwands. Beispielsweise spiele beim (teil)automatisierten Fahren der Spaß am Fahren eine entscheidende Rolle. „Es geht um emotionale Faktoren“, so Planing.
Und hierzu gehöre für ihn auch die Angst vor einem möglichen Kontrollverlust beim Fahren, wie etwa des Einsatzes vom Autopiloten. Für die Industrie ein schwieriges Umfeld, weil trotz der Vorteile neuer Technologien diese teils abgelehnt werden. Er spricht von der Macht der Gewohnheit und davon, dass es auch darum gehe, warum wir manche Technologien annehmen oder ablehnen.
Um das Annehmen ging es im abschließenden Vortag von Andreas Hofer, seines Zeichens Intendant der IBA27. Hintergrund ist, dass für Hofer Stuttgart eine Region mit Zukunft sei. Aber: Sie lege sich seiner Ansicht nach auch Hindernisse in den Weg. Grundsätzlich sieht der IBA27-Intendant Bedürfnisse nach Transformation in der Region. „Stuttgart ist ein Ort, wo Industrie noch stattfindet“, so Hofer. Mit Blick auf dieses Industrieerbe prognostiziert Hofer: „Wir werden in der Fabrik wohnen und im Schlafzimmer produzieren.“ Für ihn ergibt sich daraus eine zentrale Frage: „Wie bringen wir die unterschiedlichen Disziplinen zusammen?“ Eine Antwort liegt darin, was Troy und Simon-Philipp in ihren Ausführungen unterstrichen: „Es braucht einen neuen Blick auf die Ressourcen, denn die Bauwirtschaft ist der größte Verbraucher“ erklärt Hofer. Weiterdenken und weiternutzen sind zwei Konstanten, die sich auch in Hofers Vortrag wiederfinden. Er nennt es das „Erbe der Moderne“ und spricht sich für eine Auflösung der Grenzen zwischen Wohnen und Arbeiten aus.
Das lachende und weinende Auge
Apropos Auflösen im Sinne des nicht mehr Weiterbestehens. Somit schließt sich das Buch des M4_Lab langsam, aber sicher. Es lässt die Lesenden mit einem lachenden und einem weinenden Auge zurück. Lachend, weil darin fünf Jahre Transferarbeit in und für die Metropolregion Stuttgart festgehalten sind, mit all den kleinen und großen Erfolgsgeschichten. Es wäre sicher in kürzester Zeit ein Bestseller, würde das Buch veröffentlicht. Denn es handelt von praktischen Erfahrungen mit den Themen Nachhaltigkeit und Transfer in Bezug auf das Bauen, die Mobilität und Energieversorgung, aber auch der Partizipation. Interessierte könnten darin jede Menge Tipps für ihre Stadt der Zukunft finden. Zusammengetragen von kreativen, enthusiastischen und streitbaren Menschen, die das M4_Lab zu einem Aushängeschild im Wissenstransfer machten, weit über die Landesgrenzen Baden-Württembergs hinaus. Weinend, weil dieses Erfolgsbuch keine Fortsetzung findet, mit vielen weiteren Geschichten rund um resiliente, nachhaltige und lebenswerte Städte sowie Kommunen. „Wir hätten gerne noch ein paar Runden gedreht“, unterstreicht es Holger Haas, Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH, im Rahmen der Finissage.
Und Prof. Uta Bronner, Projektleitern des M4_LAB und Direktoriumsmitglied IAF, skizzierte in ihre Ausführungen das Bild des Transfers als eine Art Findungsprozess. „Beim Begriff des Transfers wussten wir am Anfang nicht so wirklich, was alles dazugehört“, erinnert sich Bronner. Heute ist das umso klarer, denn am Ende geht es um die Menschen mit all ihren Bedürfnissen, Sorgen und Nöten in einer Welt im stetigen Wandel. Damit endet die Erfolgsgeschichte des M4_Lab am Samstag, den 31. Dezember 2022. Fin.